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Bei den Auszügen aus dem Kapitel "Inga oder Linie 7..." handelt es sich um die Geschichte einer Liebelei zwischen Ralf Kramms und einem halbjüdischen Mädchen, der Tochter des Schrottplatzbesitzers Joel Münz, um die Geschichte einer sexuellen Initialisierung. Der Rahmen ist ein Dorf im Norden Mitte der 60er Jahre, katholisch, trist, Vergangenheit verdrängend: Brookbeck. Kramms trifft Lydia zum ersten Mal, als er sieben ist. Zwei seiner Schulfreunde und er sind am Rande des Dorfs unterwegs, das abgebrannte Gehöft des ehemaligen Ortgruppenleiters Wöller zu besichtigen. Dort werden sie verjagt und einer von ihnen verletzt sich dabei an der Wade... INGA ODER LINIE 7 ODER LYDIA UND LINIE 7 ZURÜCK "Woher weißt du das?" fragte Günni. "Von meinem Vater", antwortete Hejo. "Und Münz, der Schrottjude, der hat zwei Töchter. Claudia und Lydia, Zwillinge. Die haben solche Haare wie die Steine am Hexenloch, so rote Haare haben die. So rot wie das rostige Wasser, was da aus der Erde pieselt." "Woher weißt du das nun wieder?" fragte nun ich, weil ich sie noch nie gesehen hatte, diese roten Zwillinge. "Von meinem Bruder." sagte Hejo. "Die sind etwas älter als wir." "Dann wär'n die also bei uns auf der Schule". "Nööö", sagte Hejo, "die geh'n mit meinem ältesten Bruder auf die Hilfsschule in der Stadt. Der hat bei der Geburt keine Luft nicht richtig abgekriegt, mein Bruder, deshalb ist der etwas hintendran, sagt mein Vatter. Und mein Bruder sagt, dass die Mädels sich anhören wie Beckmanns Kreissäge, wenn die nur die Schnüss aufmachen. Und Deutsch können die nicht richtig, weil der Vater von denen nix sagt und die Mutter gar nix kann." Wir alle kannten Beckmanns Kreissäge, dieses Auf- und Abschrillen, wenn der Beckmann im Herbst Holz geschlagen hatte und es dann kleingesägt für den Winter an seinem Schuppen hoch wucherte. Ich hörte es jetzt, wie es sich durch das Dorf fraß. Es war nur schwer vorstellbar, dass dieses Geräusch zwischen Wimmern und Aggression in Mädchenstimmen wiederkehren könnte. Aber bei Hejo war man nie vor Übertreibungen und Märchen sicher. Hinter der zweiten Brücke und hinter einem kleinen Wald lag eine weite Lichtung, die Kamps Sonnenschein genannt wurde, und wiederum dahinter ein hoch aufragender Kalkfelsen, durchzogen von Sedimentgestein, der Baumkuchen eben, und rechts der Argentiner Topf, ein See mit glasklarem eiskaltem Wasser, tief nach unten in den Kalkstein gegraben und gesprengt, rundherum ein terrassenförmiger Trichter aus steilen Ufern. Hier hatte man früher nach Silber gesucht und Kalkstein gefunden. Wir standen am Rand weit oberhalb des Wassers, renkten uns fast die Schultergelenke bei den Versuchen aus, mit Steinen in die absolut stille Wasseroberfläche Kringel zu werfen. Nur selten gelang es einem von uns, tief unten hörten wir dann den See mit einem trockenen Klatschen. "Na, i trei, na", sägte es plötzlich hinter uns. Wirklich nicht so schrill wie Beckmanns Kreissäge, aber auch nicht völlig losgelöst davon, nicht so frostklirrend im Sommernachmittag wie Hejos Bruder es gesagt hatte, aber auch nicht auf der gleichen Gradzahl wie die Außentemperatur, denn es war ja August. Wir fuhren herum und erstarrten. Zwei Mädchen, Claudia und Lydia natürlich, die Zwillingsschwestern, standen nebeneinander und grinsten ein wenig aus ihren hellen Gesichtern mit den flammendroten endlos langen Haaren drumherum. Zwei blasshäutige Feen, zwei feuermeldende Hexen, zwei etwas verlotterte und doch reinweiße Jungfraumarias in jungen Jahren mit Perücken auf, die vom Teufel gemacht waren, vielleicht Maria Magdalenas vor der Umschulung auf heilig. Und eine Maria, die entweder Claudia oder Lydia hieß, hatte zwei unterschiedliche Socken an. Wir starrten aus unserer Erstarrung. "Wollter Fuball spilln mi un?" fragte die eine wunderschöne werdende Mutter Gottes mit zwei gleichen Kniestrümpfen und Hexenhaar. Beckmanns Säge hatte nur milde geschrillt. "Eien richgen Fuball hamm wieä abber nich", schräpelte Maria-Claudia oder Maria-Lydia und kickte mit der Ringelsocke nach einer Kugel aus Stoffresten mit Umwicklungen aus zwei oder mehreren Haarnetzen. Ihre Socke am Standbein war königsblau. Sie war Linksfüßerin. "Der hier", sagte Hejo und zeigte auf Günni, "ist ziemlich verletzt da hinten." "Nööö", sagte Günni, "ich geh' dann ins Tor. Ich kann mich nur nich' so schmeißen wie sonst." "Duffthä", sagte die ringelsockiglinksfüßige Hexenmadonna, "Claudi un iech gegn eu tswei Beithä dann." Nun wusste ich, dass sie Lydia hieß, auf eine Sonderschule ging, eine Sprachstörung hatte, ihre Stimmlage glücklicherweise nicht ganz an Beckmanns Säge herankam und dass Claudia mir egal gewesen wäre, aber dennoch war sie Lydias Spiegelbild, bis auf die Socken. Die Gleichsockige warf den Ball hoch. Diese hexenden Madonnen waren nicht klein zu kriegen. Sie waren so groß wie wir, sie waren so schnell wie wir und konnten tricksen wie wir, aber sie waren mit ihren langen roten Lockenhaaren weit schöner als wir.Einmal versuchte ich Lydia zu entwischen, doch sie zog an meinem aufgekrempelten Hemdärmel und riss mich um. Sie verlor dabei selbst das Gleichgewicht. Ich fiel auf ihren Rücken. Momentlang hatte ich die Nase in ihrem Haar. Und zum ersten Mal in meinem Leben inhalierte ich ein Mädchen: Da war noch etwas Kernseife und eine Spur vom süßen und nur ein bisschen mild-säuerlichen Geruch von Schlesischen Gurkenhappen, so, als würde die Mutter am anderen Tischende das Glas öffnen und der Zugwind im Wohnzimmer eine leichte Brise herüberwehen, fein wie die leicht bewegten Gardinen im offenen Fenster. Schlesische Gurkenhappen, genau das.Zu schnell rollte sie sich weg und sprang auf. Und auch ich hatte meine Nase aus diesem Augenblick des Zufalls gezogen, vielleicht, weil die Schergen dem Herrn am Kreuze nur einen stinkenden Essigschwamm gereicht hatten und ich nicht schuldig werden wollte. Muss man es beichten, wenn man nicht so nagelneuen Kernseifenduft, aber nagelneuen Mädchenschweiß gerochen hat, wenn man in ein paar Jahren durchs schwarze Tuch in den dunklen Schacht der Vergebung geht? Das waren damals nicht meine inneren Worte, aber die einschießenden rasenden Bilder existierten im Schwamm meines Kopfes. Und ich dachte durch die Nase und den Bauch."Hut ab, sagt mein Opa immer", sagte Hejo, als wir alle nicht mehr konnten, die Zwillingsschwestern sich ins ausgedörrte Gras von Kamps Sonnenschein fallen ließen und genauso verschwitzt wie Hejo und ich in den Spätnachmittag dünsteten. Die roten Zwillinge sagten nichts, und wir sagten wenig. Claudia, die Gleichsockige, sprang irgendwann auf. "Na Haus", sägte sie, und die Schwestern verschwanden Richtung Schrottplatz, einen roten Schimmer hinter sich herziehend. "Soll'n wir bald mal wieder bolzen?" schrie ich ihnen hinterher. Sie drehten sich noch einmal um, winkten und lachten. Den Ball hatten sie vergessen. Kramms ist mittlerweile siebzehn. Seine erste Liebe Inga hat deren Vater vom Mädchengymnasium abgemeldet und in einem Nonneninternat weit ab im Moor abgemeldet, um sie aus dem Verkehr zu ziehen. Irgendwann reitet Kramms auf der Victoria Vicky, seinem Moped, gegen die Nonnenfestung zur Befreiung Ingas. Er bekommt sie nicht einmal zu Gesicht. Dafür fährt er Motocross im Gemüsegarten des Klosters . Das gibt jede Menge Ärger. Aber Inga bleibt, wo sie ist: Im Nonnenknast, weit weg im Moor. An den folgenden Tagen gärte und blubberte ein Gemisch aus Wut, Liebeskummer und Ohnmacht in Kramms: Innere Blähungen, in Panik, auf der Suche nach dem Notausgang. Auf dem Garagendach lagen die neuen Dachziegel und schmorten unter der ultravioletten Sonne durch die Tage. Es gab fast nichts zu tun. Die Lerchen jubilierten höhnisch. Er stand vor dem Leben, als sei es ein völlig ausgepumptes Nichts zwischen Austrocknung und schwül-warmer Beklemmung. Hejos Sprüche waren nervende Endlosschlaufen, besonders im Schwimmbad drehten sie um die eigene Achse, wenn Mädchen aus Hardenberg und Garstett in ihrer Nähe herumkokettierten, Günni war bei Verwandten in Flensburg und segelte in der Förde, Inga schaute im Moor aus dem Fenster in Entwässerungskanäle, deren Wasserspiegel immer mehr gegen den modderigen Grund sanken und Faulgase in die Glocke über dem Land pumpten. Nachts tröstete er sich mit Radio Carolina oder Radio Hilversum in die Welt da draußen, in den dunklen Nachtäther weit weg vom Dorf, das sich in den nächsten Tag schnarchte, in den leicht betäubenden Nachtäther, ließ Träume von Leidenschaft, Lust und Erfüllung in seinem Gehirnkino spielen, besetzte die weibliche Hauptrolle ständig um, manchmal mitten im Set, wenn nicht gerade Inga eine Szene hatte, dabei onanierte er, bis er glaubte, eine brennende Fackel in seiner Hand zu haben. Und vor ein paar Wochen hatte er mit dem Mikrophon vor dem Lautsprecher und dem Magischen Auge des alten Graetz-Radios I can't get no satisfaction von den Stones aus den Kurzwellen der Nacht gefischt. Den Text hatte er seinen Gitterwänden laut vorgelesen. "Müssen wir sie jetzt kommen lassen, die Kerls mit der weißen Jacke?" hatte der Vater im Flur gerufen. "I can't get no...", hatte Kramms zurückgeblökt. "Und du auch nicht, wenn du ehrlich bist, Alter!" Die Tage verschlief er, wenn ihn die Müdigkeit über die Schwelle ließ, oder fuhr mit der Victoria Vicky ziellos herum, meistens in der Stadt, in deren Straßen die heiße Luft eingeklemmt immer wieder sich selbst atmete. Und in diesen stickigen Dunst projizierte Pygmalion-Kramms seine Galathea, die manchmal aussah wie Inga, doch häufig andere Gestalt annahm. Aber Aphrodite dachte nicht daran, diese leblose Figur lebendig atmend in den Sommersmog zu schicken, um sie darin gleich wieder ersticken zu lassen. An einem dieser bleischweren Tage gab das Tonbandgerät einen kurzen Zischlaut von sich und die Spule schlackerte rhythmisch mit dem abgerissenen Bandende gegen den Tonkopf. Das war schon einige Male passiert und Kramms hatte allmählich die Lust verloren, die Bänder immer wieder zu flicken. Einige bestanden schon aus reichlich Tesafilm und hackten die Songs in Stücke. Das und alles Andere war falsch an diesen langsamen Tagen und durchschwitzten Nächten.Er bekam einen Anfall, trat wütend, aber ziellos gegen die Tür seines Werkzeugschrankes, gegen das angeklebte Poster mit Pete Townsend von The Who trat er. Er keilte seinem Pete mitten ins Gesicht. Eu, Pete, deine Nase! Ausgerechnet diese eh schon verhauene Nase! Excuse me! dachte er kurz. Und beide Klapptüren sprangen währenddessen auf, und eine Flutwelle aus Heften, Büchern, Tonbandspulen, alten Turnschuhen und Blechdosen mit gesammeltem Krempel ergoss sich auf den Boden. Am Ende der Lawine rollte Claudias und Lydias Ball aus Lumpen und Netzen in den chaotischen Haufen und verfing sich zwischen The Advanced Learner's Dictionary of Current English und einem kaputten Verlängerungskabel. Kramms trat wieder zu, diesmal gegen den Ball. Der holte eine Pappschachtel aus dem Hängeregal, ließ sie einen Schraubensalto schlagen, dabei verlor der Karton auf dem Weg zum Boden seinen Deckel. Eine Flut von Erinnerungsfotos verteilte sich auf Ralfs Bett und auf dem Parkett. Mittendrin lagen drei Schachteln Blausiegel Präservative, die er unter den Fotos für den Fall versteckt hielt, dass er und Inga mal weitergehen würden, als sie es bisher gewagt hatten. Bis das passiert, sind die verrottet, dachte er, die öligen Pimperpellen.Der Ball lag nun still unter dem Schreibtischstuhl. Kramms sah ihn sekundenlang an, stopfte ihn dann in die Sporttasche, steckte die Präservativpackungen in die Jeans und rannte die Treppe hinunter. Er raste auf der Victoria Vicky durch die Samtgemeinde Brookbeck, spähte am Schwimmbad nach dem Bademeister und stieg über den Zaun. Hejo fand er in der Ecke neben der Pumpstation. Der rauchte eine selbstgedrehte Schwarzer Krauser, fachmännisch geklebt und voluminös wie ein afghanischer Familienjoint. Kramms wusste, dass Hejo mit dieser Placebo-Tüte San Francisco, Amsterdam, Liverpool, die Bazare von Marrakesch imitierte, das Flair Jamaikas nach Brookbeck holte, um den Jungfrauen aus dem Nachbardorf zu zeigen, dass es hinter den Mittelgebirgshügeln Brookbecks und Hardenhausens noch andere imponierende Welten gäbe und er ein Teil davon sei. Selten, aber immerhin ein paar Male, hatte die Animation Erfolg bei den Hühnern Hardenbergs gehabt. Und einmal hatte sich seine Zunge in einer schlecht sitzenden Zahnspange verhakt. "Komm mal mit hinter den Sprungturm, ich muss mit dir quatschen!" sagte Kramms."Scheißdealer", hörte er eine Jungfrau aus dem Nachbardorf sagen, und damit war er gemeint. "Scheißtiffe", sagte Kramms, und damit war sie gemeint. Dealen? Mit drei Doppelpackungen Blausiegel Plaisier dealen? Er wollte sie aus ihrer Verpackung befreien, überziehen, anwenden... Und sich dabei aber in keiner Zahnspange verfangen. Also, sagte Kramms, das ganze Rumgehänge sei Affenscheiße, im Schwimmbad, zuhause, in der Stadt... Inga sei nun mal weg. Und warten, warten, dass sei ja nun auch nur Mist. Und völlig ballaballa sei es, den depperten Trampeln aus Hardenfeld Jointattrappen vorzurauchen. Zögen die mal dran, hätten sie noch die Phantasie Phantasien zu haben. Er habe den Ball beim Aufräumen gefunden, den Ball von Kamps Sonnenschein, den eben. Man könne ja mal wieder mit Claudia und Lydia ein bisschen Fußball spielen. Die seien zwar vom Schrottplatz, aber tamdaradei wie Mattes der Zwote zu sagen pflege. Pariser habe er reichlich in der Tasche. Und das ewige Gewichse, das sei er leid. Er habe schon Schwielen am Zäpedäus, fast Brandblasen, fast eine Sehnenscheidenentzündung im Handgelenk. Die roten Zwillinge seien außerdem gar nicht so dumm, denn während man all die Trottel, die anfangs nur Plattdeutsch in der Grundschule geschnackt hätten, dort behalten habe, seien die beiden Münz-Mädels postwendend aufs Brettergymnasium geschickt worden. Manche von den Trotteln seien das heute noch, während die Mädels die Hilfsschule doch dann hinter sich gelassen hätten. Und vom Aussehen her erst recht... "Stimmt!" sagte Hejo. "Wie machen wir das?" fragte Kramms. "Möglichst bald!" sagte Hejo. "Aber ich trau' mich nicht so recht, sie zu fragen. Wir haben sie im Bus damals manchmal ziemlich verarscht mit ihren Schräpelsstimmen, dem Schrottplatz und ihrem Spezialgymnasium." "Fragen kost' ja nix", sagte Hejo. "Ja, aber wie und wo?" "Leih' mir mal deine Vicky!" sagte Hejo. "Wir treffen uns um siebene beim Stänk." "Kann man die beiden eigentlich irgendwie auseinanderhalten? Ich meine so: Lydia ist mir irgendwie bekannter." "Klar", grinste Hejo, "Claudia ist ja jünger, erst neunzehn, wenn ich nicht irre. Die steht auf Rex Gildo und Thomas Fritsch." "Woher weißt du das?" "War nur Quatsch!" sagte Hejo. "Ich zieh' meine Sachen an und dann starte ich, der Götterbote. Hol' nur noch von zuhause meine gute Jacke." Während Kramms durchs Dorf irrt und sich an einer Straßenecke Nassrasierer ansieht, kommt Lydia am anderen Ende der Ecke aus Lottes Imbiss. Sie sehen sich nicht. Aber hätten sie sich gesehen, was wäre dann passiert. "Hallo!" "Tach, Lydia!" Sonst nichts. "Da haut's dich doch nieder! Hast du die Braut geseh'n? Oi!" sagte der eine Anstreicher, als Lydia auf dem Fahrrad am Gerüst vor dem Edeka vorbeiradelte. "Kennst du den Witz mit Adam und Eva und dem Fahrrad im Paradies?" fragte der andere Anstreicher. "Jau", sagte der erste Anstreicher. "Dann brauch' ich den ja nich' zu erzähl'n." sagte der zweite Anstreicher. Und in diesen vorbeigelaufenen Sekunden fuhr Hejo mit der Vicky am geschlossenen Tor des Schrottplatzes vor. Drei Hunde sprangen von innen den Maschendrahtzaun in einem wahren Furor an. Hejo war heilfroh über das geschlossene Tor zwischen ihm und den wahnsinnigen Bastarden, aber eigentlich hatte er hindurchfahren wollen. Quer über Münz Metall- und Autoverwertung zum mittlerweile stattlichen Wohnhaus hin, dahin, wo früher eine zusammengezimmerte Baracke gestanden hatte. Die Hunde geiferten, hasserfülltes Bellen und fletschendes Knurren schlug durch den Zaun nach Hejo. Der fror plötzlich in den Dreißiggradsommer und seine Nackenhaare stachen zurück in die Haut.. "Schäck!" oder etwas Ähnliches schrie die versoffenschöne-zigeunerische Frau Münz aus ihrem Liegestuhl zwischen einem NSU Prinz und einem R4. Und die Hunde waren still. Sie ging gerade, aber stieren Blickes zum Tor. Hejo paddelte mit den Füßen das Moped etwas näher heran. Die Hunde versuchten wieder, sich durch die Maschenquadrate des Zaunes nach außen zu beißen. "Schäck!" oder etwas Ähnliches rief Frau Münz. "Was gibt's?" fragte sie durchs Tor. "Ist Ihre Tochter Claudia vielleicht zu sprechen, gnädige Frau? Ich bin ein Kollege von Claudia aus der Berufsschule. Ich müsste ihr etwas mitteilen." "Clau-di-aaa", krähte Frau Münz Richtung Wohnhaus und lauschte. "Hör'n Sie was?" fragte sie Hejo. Der schüttelte den Kopf. "Ich auch nich'. Is' auch nich' da, Claudia. Is' im Schwimmbad." "Im Brookbecker Schwimmbad? Da komme ich grade her!" "In der Stadt. Im Hallenbad is' Claudi." "Aha", sagte Hejo, "dann bin ich ja leider umsonst gekommen." "Und zur Berufsschule geht sie auch nicht, Claudia. In die Strumpffabrik geht sie." "Och", sagte Hejo. "Wollst mich verkohl'n, Burschi, was?" "Nein, nein, gnädige Frau!" Hejo hob kapituliernd die Hände. "Grall" oder etwas Ähnliches rief Frau Münz, und die Hunde sprangen wieder mit ihrer menschenfressenden Wut den Zaun an. Die würden sogar ein Moped verschlingen, die Killerköter, dachte Hejo, und drehte mit einem kalten Kribbeln im Nacken ab. Räääääääääääh, machte das Moped ins gurgelnde Kläffen. "Mist, Mist, Mist, verdammte Affenscheiße", zischte er in die Straße, als er an Wöllers Hof vorbeikam und hämmerte mit der linken Hand auf den Tankdeckel. "Scheiß die Wand an", schrie er am Kreuz und Jesus vorbei in den Wald. Und "Leckomio" unter den Drähten der Seilbahn. Auf halbem Wege zwischen der Seilbahn und der Stelle, wo die Radiofabrik mal gestanden hatte, schob Lydia das Fahrrad und das halbe Hähnchen. Hier an Rotters Brink musste man am kurzen, aber steilen Anstieg absteigen. Hejo kam auf der Vicky den Hang herunter, hatte den Kopf in den Himmel gereckt, so, als beschimpfe er die Lerchen und all die Wesen der Oberwelt. Aber er sah doch eine rote Zwillingsschwester und machte eine Vollbremsung. Er versuchte, so zufällig wie möglich auf ihr Dekollete zu sehen. Da hing der Skorpion am Silberkettchen. Also war es Lydia. "Tach, Lydia", sagte er. "Ziemlich steil hier, was." "Hallo, Hermann Josef", sagte sie. "Schönes Moped." "Geliehen", sagte Hejo. "Ich war grade da oben bei euch am Platz. Wollt' eigentlich Claudia mal kurz sprechen." "Die ist mit Freundinnen aus der Fabrik im Hallenbad. Eine Art Betriebsausflug. Soll ich ihr nachher was bestellen?" "Die Sache ist so", sagte Hejo, "wir haben diesen alten Ball in Ralles Schreibtisch neulich wiedergefunden. Du weißt ja vielleicht noch, dass wir da oben mal mit euch gebolzt haben. Der Günni mit der blutigen Wade stand damals im Tor. War vor Jahren." "Auf Kamps Sonnenschein", sagte Lydia. "Korrekt", sagte Hejo, "genau da. War wohl vor zehn Jahren oder so. In grauer Vorzeit jedenfalls." "Genau. Wir haben den ulkigen Ball damals vergessen." "Jaja", sagte Hejo. "Ralf wollte die Pille immer mal zurückbringen. Dann hat er's verschlampt, weil er in seinem Schrank in der hintersten Ecke lag. Und da lag er dann auch neulich noch wie gehabt." "Und nun? Ich meine: Wo ist der denn, der Ball?" "Also, wir hatten mal gedacht gehabt, dass wir den zurückbringen und wir ein bisschen bolzen könnten", sagte Hejo. "Hätt' schon Lust mal wieder zu kicken", sagte Lydia und dachte nach. "Ich frag' mal Claudia. Die hat ab Morgen ein paar Tage Urlaub genommen. Am nächsten Dienstag habe ich mittags in der Apotheke Schluss und komme mit dem Dreierbus zurück." Hejo raste auf der Vicky zum Dorf hinunter. Am Friedhof nahm er einem Ford Taunus die Vorfahrt. An der Sparkasse übersah Hejo seine Mutter, die ihm mit einem Weißbrot zuwinkte. Vor Stänks Kneipe machte er eine Vollbremsung in den Fahrradständer hinein. "Lalalalalaaa...", sang er auf dem Weg zum Flipper, in dem Kramms gerade seine letzte Mark versenkt hatte. "Was is'?" fragte der und vergaß, die Kugel wieder ins Spiel zu schießen. "Lalalalalahaha...", sang Hejo. Kramms hielt ihm die Nase zu: "Los, du Sadist, sag was da war!" "Diehihihihienstag, dreieieiei Uhuhuhuhur", sang der durch den Schalldämpfer. "Buhuhuhuhusstation." "Lalalalalahaha", sang Kramms und tanzte eine Runde mit dem Boten. "Seid ihr schwul?" rief der Stänk. "Seit wann, Mädels?" "Seit heute, Stänkelchen! Und gleich vernaschen wir dich, Stänkelchen. Zu zweit!" rief Hejo zurück. Und Stänk zeigte ihm den Vogel: "Ach, das tut aber wirklich nicht not, Mädels!" "Du sag mal, Hermann Josef, woran kann man denn nun Claudia und Lydia wirklich unterscheiden?" fragte Kramms. "Am Alter." grinste Hejo. "Die Ältere hat schon Ringe unter den Augen. Die Jüngere jedoch ist überirden schön." "Du weißt das also nicht?" "Doch! Aber bevor ich's künde dir, tu du, was dir gebühret, Freund. Gib' Gott, was Gottes ist! Und dem Boten seine Gummitaler." Hejo wippte hin und her. Kramms holte die Präservativpackungen aus der Jeans, öffnete eine davon, teilte sie. "Du drei, ich dreie. Wie beim alten Störtebeker." "Kettchen zieren ihren Hals, Medaillons ihre Büste. Eine trägt den Skorpion, die andere trägt das Kreuz am Buhuhuhuhusen." Wieder wippte Hejo. "Und Lydia?" "Den Skorpion, mein blinder Freund!" "Bist du sicher?" fragte Kramms. Die Fortsetzung können Sie unter dem Button literatur 3/2 anklicken. |