SATIREN




WEIHNACHTEN IM WEITESTEN SINNE

Irgendwann hatten sie Onkel Heinz abgeholt. In einem weißen Kombi mit Martinshorn obendrauf. Aber das hatten sie nicht angestellt. Im Kleefeld hatte er gesessen, der Heinzi, mittendrin in all den duftenden Blüten, mitsamt seiner Hochseeangel, den Vorräten von Lachsersatzbrötchen und verdünntem Himbeersirup. Nach drei Tagen waren sie gekommen. "Na, was gefangen?" hatten sie gefragt und ihm unter die Achseln gegriffen. "Von welchem Gestade sind Sie eigentlich?" war seine Antwort gewesen. "Wo in der Literatur oder Überlieferung ist dokumentiert, daß man in einem Kleefeld Fische fangen könnte? Selbst Laien sollten etwas mehr Sachverstand haben. Das kann man verlangen, beim heutigen Stand der Informationsmöglichkeiten. Mein Motto war: Fischen, ohne zu fangen. Naja! Gehen wir! Man redet ja doch gegen Mauern." Von diesem Zeitpunkt an redete er recht häufig gegen die Wand, könnte man sagen.

Und am Mittag des Heiligen Abends hatten wir Onkel Heinz abgeholt. Wie jedes Jahr seitdem. Das heißt, eigentlich waren es gar nicht wir, sondern unser Vater war mit den Worten in die Stadt gefahren: "Ich werd' mir Heinzi einpacken. Wenn er Zicken macht, geben wir ihm was in den Grünkohl."

Grünkohl gab's immer am Heiligen Abend nach der Bescherung. Vor der Bescherung mußte mindestens Stille Nacht, heilige Nacht gesungen werden. Großmutter stimmte an, grinsend stimmten wir Kinder ein. Onkel Heinz auch. Nur mit dem Text kam er nicht klar. Jedenfalls sang er eine Variante, die wir noch nie gehört hatten. Und darüber mußten wir noch mehr grinsen. "Wenn ihr nicht aufhört mit dieser schamlosen Giffelei, packe ich eure Geschenke weg und schließe den Speicher ab", drohte Oma. "Wenn Heinz da ist, kann man sich nicht alles verkneifen", beschwichtigte der Vater, der sonst manchmal streng war. "Ich stell' jetzt Norddeich Radio an. Dabei machen wir Bescherung, und dann gibt's einen anständigen Pott Grünzeugs." Beim Essen türmte Onkel Heinz den Grünkohl zu einem Kegel. "Dürfte ich vorab schon mal um etwas Nachschlag bitten?" fragte er meine Mutter. "Ich fürchte, ich krieg' sonst erhebliche Schwierigkeiten mit der Wurst." Er bekam den Nachschlag. "Warum steckt Heinzi die Mettwurst so pillegrade ins Gemüse?" fragte mein jüngerer Bruder. "Das weiß der Himmel", murmelte Vater. "Frag ihn selbst!" "Basis jeder Kommunikation ist eine Antenne, weißte", sagte Heinz. "Keine Antenne, keine Verbindung. Keine Verbindung, alles nur Grünkohl, weißte. Am Heiligen Abend sind die Seelen im Kosmos besonders sentimental, empfindlich gleichsam. Starke Ausgangsleistung. Aufgrund klarer Frequenzen reicht eine vertikal gerichtete Pinkelswurst zum Kontakten. In manchen anderen Nächten muß ich den Spazierstock durchs Oberlicht richten, um auf Welle zu kommen, verstehste. Ach, und den habense mir im Heim vor Wochen wegkonfisziert, diese entsprechend gekleideten Inquisitionskanaillen. Auf die Idee, daß selbst an verdammt schlechten Tagen eine Zahnbürste reicht, die ich mit 'nem Ende Gummilitze an die Gardinenstange binde, sind sie noch nicht gekommen, diese Grünschnäbel. Es muß aber anscheinend Goldzack Gummilitze als Adapter sein. Solche Weckglasringe sind im erheblichen Maße dämpfend und störanfällig." "Aha", sagte Vater. "Ja", sagte Onkel Heinz, "da träumste von, was, Walter?" "Ne", sagte Vater, "ich träume jetzt von Zündkerzen." Und alle wußten, daß er damit seinen Karton mit Underbergfläschchen meinte. Meine Mutter, die vor meiner Geburt einige Semester Veterinärmedizin studiert hatte und deshalb auch einiges von Psychologie verstand, war nicht so ganz ohne. Scheinheilig fragte sie den Onkel, was denn nun passieren könne, wenn er die luftgetrocknete Mettwurst horizontal auf der Grünkohlpyramide plaziert hätte. "Heinz, was wäre dann mit deiner interstellaren Konnexion?" "Hör mal, Annette", rief mein Vater dazwischen, "seit wann hast du's denn mit so 'ner mondsüchtigen Telefonitis? Warste schon an den Weinbrandbohnen?" "Ach was", sagte Mutter, "das war mal eine so rein technische Frage." Heinz, auch hinter Mauern stets tadellos gekleidet und erst recht beim seltenen Freigang, hantierte grübelnd mit der Linken an seiner Fliege und zeigte mit der Rechten schwankend auf die senkrecht aufragende Wurst. "Nun", sagte er sinnend, "Annette hat ein wahrlich verzwicktes Problem zur Sprache gebracht. Eine querstehende Antenne. Was könnte sie im Gesamtsystem bewirken? Tja", sagte er schließlich, "ich muß eingestehen: Darauf habe ich offen gestanden keine schlüssige Antwort. Vermutlich, aber tatsächlich nur als reine Spekulation: Eine gezielte Kommunikation wäre wahrscheinlich erschwert, eine gewisse Anzahl wahllos daherfunkender Wichtigtuer würde wohl für Über-lagerungen sorgen. Eine Art unbrauchbarer kosmischer Salat könnte entstehen. Könnte, muß jedoch nicht zwangsläufig.. Wäre wert, das mal näher unter die Lupe zu nehmen." Damals vielleicht zwölf Jahre alt, sagte ich: "Du, Heinzi, du kannst also irgendwie mit welchen da draußen schnacken, so wie ich mit meinem Kumpel Oskar übers Schnurtelefon, also wie mit zwei leeren Niveadosen und 'nem Schwarzwälder Zwirn dazwischen?" "Ja", sagte er nur und justierte die Fliege. "Hat man je so 'nen Dummschnack gehört", krähte Oma. "Das ist ja genau wie mit Angeln auf der Kleewiese." "Nicht genauso", sagte der Onkel, "aber eine gewisse Verbindung besteht natürlich." Dann bat er meinen Vater, ihn zurück in die Anstalt zu fahren, er habe noch auf der Station in seinem Labor zu tun. "Stille Nacht, heilige Nacht, alles schweigt, doch Heinz, der wacht, nur das traute, sensible Radar, hochfrequente Strahlen zippeln so klar...", sang Vater, als er wieder nach Hause kam. "Und nun, ihr Lieben, braucht der Schwager von Heinz zum Abschluß ein paar Aquavit, oder wir gehen doch noch in die Mitternachtsmesse und zelebrieren die Eucharistie aus Weihrauch und Myrrhe. Und dann wird's uns wieder ganz schwiemelig im Kopf vor lauter Dunst."

Seitdem sind mehr als dreißig Jahre vergangen. Trotz aller technischen Revolutionen ist unser Heiligabend und der Grünkohl geblieben, allerdings ohne Mettwurst, denn meine Mutter war im Alter militant geworden: Sie war jetzt Veganerin. Mein Vater war geblieben, ab und zu vergaß er etwas durch eine Mangelkrankheit, sogar den Namen seines sporadischen Leidens, daß er dann Clausthaler nannte. Heinz, inzwischen fast achtzig, war geblieben. Nach wie vor zappte er durch das interstellare Netzwerk. Grünkohl mit Pinkel tat er als kommunikationstechnisch überholt ab, auch die Spazierstock- und Zahnbürstenphase betrachtete er als technologischen Schrott, denn mittlerweile trug er stets einen Hut, aus dem eine leistungsfähige Lummenfeder hervorragte, und an die Fliege hatte er eine höchstsensible und effektive Krawattennadel gesteckt. Seit einigen Jahren brachte er zudem zum Feste eine Mittdreißigerin mit, Gabi, eine multiple Persönlichkeit, die in der Anstalt einige Mauern weiter untergebracht war. Schwieg der Kosmos, beispielsweise durch extremen Meteoritenhagel oder gesteigerten Protuberanzenauswurf, so hatte Gabi immer noch die Gabe, sich in Mata Hari, Golda Meyr, Greta Garbo oder Helga Feddersen zu verwandeln. Überhaupt hatte sich der Kreis erweitert, denn meine Schwester, mein Bruder und ich brachten unsere Familien mit. Nur Oma ist schon lange tot. Sie starb in eine Nacht hinein, die vollgestopft war mit blonden Reitern auf Schimmeln, lebendigen Arnold Breeker-Skulpturen, Affären mit Johannes Heesters, güldenen Einhörnern und Schmähreden auf die sinistre Schar unter der Kutte masturbierender Dompröbste. "In Weih und Glied", hatte sie dabei gemurmelt. Da half auch nicht mehr, daß sie öfters eine Flasche Kölnisch Wasser kippte. Je blinder sie wurde, desto mehr schien sie zu sehen. Am Ende ihres Filmes starb sie in einem grandiosen Finale. Das ist der momentane Stand. Und der Grünkohlacker in Mutters Garten hat inzwischen die Dimension eines Tennisfeldes. Er reicht schon fast bis ans Gewächshaus.

Einige Tage sind es nur noch, dann werde ich wieder am Landeskrankenhaus Gertrudenberg vorfahren und Gabi und Heinz abholen. Das ist meine Aufgabe seit Anfang der 90er Jahre. Und der Rest der Großfamilie wird angekleckert kommen, das Haus meiner Eltern in einen feierlichen Tumult versetzen. Alle Jahre wieder wie im letzten Jahr.

Ich weiß allerdings nicht so recht, wie ich die Geschichte vom Heiligabend 1998 beginnen soll. Und Schweigen wäre vielleicht besser. Die Korrekten reden jetzt viel von Mobbing, beruflich und interfamiliär...

Also, mein Bruder hat einen Sohn namens Sven Olaf. Und obwohl ich der Patenonkel dieser postmodernen dreizehnjährigen Kreatur bin, steigt mir etwas in die Galle, wenn ich unseren lieben Svenny sehe. Dieses libidinöse Jungwrack, ein Fast food-Buddha mit erheblichen Atembeschwerden, kam im letzten Jahr mit einem Extrakoffer, packte vor Bescherung und Grünkohl einen Laptop, vier Ersatzakkus, Faxgerät, Internetutensilien und einen Karton mit Paprika-Chips vom Aldi aus, schleppte pustend alles ins Arbeitszimmer meiner Mutter, die inzwischen Schriftstellerin geworden war, und verschwand bis zur Bescherung. Vielleicht war das auch gut so. Augen für seine etwa gleichaltrigen, leiblichen und lieblichen Cousinen hatte er jedenfalls nicht. Neben manchen anderen wissenswerten Dingen gab's ja schließlich im Internet wesentlich jüngere und wesentlich ältere Modelle zu begaffen. Und die sagten nicht solche Dinge wie: "Verpiß dich, rosaner Ballonkatheder!" oder "Vetter Interfett" oder "Nix wie weg, der Salzstangen-schredder kommt!" Das etwas mehrstimmige Stille Nacht, heilige Nacht vor der Bescherung nahm besagter High Tech-Kubus mit einem Diktaphon auf, musterte unter reger Nichtanteilnahme seine Geschenke, schnappte sich direkt danach sein Handy und berichtete einem Kumpel im Fleische und Geiste, das sei vielleicht wiedermal so'n Fest, der einzige halbwegs Gescheite hier sei sowieso der Onkel Heinz, denn der verstünde zumindest etwas von Kommunikation im weiteren Sinne. Dann verschwand Svenny erneut in Mutters Arbeitszimmer und tauchte erst wieder zum Grünkohl auf. Grünkohl aß er natürlich nicht, denn der Aldi-Karton war mittlerweile halbleer. Dafür begann er allerdings ein Streitgespräch mit Onkel Heinz. Der rief nach einer Weile, etwa zur Zeit des zweiten Nachschlags, außer sich in die Runde: "Du willst mir also nachweisen, ich sei nicht auf die perfideste Weise bestohlen worden? Was weißt Du von den Dingen, die sich zwischen der Unendlichkeit meines Gehirnlabyrinthes und fernen Galaxien ereignen? Was weißt Du vom essentiellen Heinz und von der seelischen Substanz eines Claus Störterbekers?" Svenny schluckte ein wenig, aber Onkel Heinz hatte Fahrt aufgenommen. "Ich benenne Dir die Diebe meines Systems: Marc Andreesen, Jim Clark und Bill Gates, du geclonte Marzipanstulle." Hier begann Svenny zu weinen. Kein Mensch in der Runde wußte, ob er die Marzipanstulle, sich selbst oder den beleidigten und hochverehrten Bill Gates beweinte. Doch nun griff Gabi, die multiple, ein: "Heinz, du bist zu weit gegangen! Erstens: Reg dich in deinem Alter nicht so auf, sonst kackst du ab! Zweitens: Du gehst auf der Stelle mit Svenny in den Stall und zeigst ihm Mutter Annettes Kuh!" Etwas betreten nahm Onkel Heinz Svenny an die Hand und verschwand mit ihm. "All diese Dinge, mein Junge, sind in der Substanz meine Dinge", hörten wir ihn noch in der Tür sagen. Und alle dachten, Heinz und Svenny hätten sich in Mutters Arbeitszimmer zu einer Aussprache über Orbit, Parapsychologie, Cyber, Globalinks und virtuelle Welten zusammengesetzt. Aufatmend holte Vater den Eiskübel mit dem Jubiläums Aquavit. "Komm, trink du fein ein' mit, Jung", sagte er zu mir. "Papa spendiert nachher für Gabi und Heinz 'ne Taxe, dann kannste ruhig was bedudelt mitfahr'n." Nach der ersten Flasche ging Mutter, um nach Heinz und Svenny zu sehen. Nach der zweiten ging Gabi, um nach Mutter zu sehen. "In Mammas Arbeitszimmer sind die nich'", sagte Vater, als er die dritte eiskalte Flasche brachte. "Dann sind die doch wirklich in den kalten Kuhstall zur Klara gegangen", sagte meine Schwester. "Nun", sprach Vater etwas angelallt, "dann hat das einsame Milchvieh beim Melken auch Gesellschaft und Feierlichkeit am Wiegenfeste unseres Herrn. Andererseits: Was soll unser Svenny mit 'ner Kuh? Die schmeißt ihm am Ende noch 'ne gut verdaute Natur-CD-Rom auf seinen Laptop."

Wie gesagt, im Alter war meine Mutter Veganerin und Schriftstellerin geworden. Sie hatte ein Bändchen mit dem Titel "Wetterenergie und der Gesang der Hörner" veröffentlicht, das besonders bei ökologischen Agrariern viel gelesen wurde. Sie wies darin nach, daß freie Weidekühe via Gehörn hochfrequente Wellen empfangen, die Information in Hirn und fünf Mägen filtern, letztlich im Verhalten weitergeben und in der Substanz der Milch ableiten. Und wenigstens die Klara, die mit Nachnamen Zetkin hieß, wollte sie vor Schlachthof und Kasserole retten. Klara sollte leben. Und mit ihrer Milch düngte sie den Grünkohlacker. Der war dann so prächtig beim ersten Frost.

"Du", sagte irgendwann mein Bruder, "wir kucken wohl besser mal nach." "Kucken is' gut", sagte ich, "kuck mal die leeren Jubi-Flaschen." "Kucken wir mal, ob wir noch nachgucken können, denn wir kucken ja schon, obwohl wir gucken sollten", sagte meine Schwester. "Ich kuck mal in der Truhe, was der Jubi so macht", drohte Vater.

Eisig war die Nacht, und leichter Zuckerschnee bedeckte die Flur. Im Stall brannte das Licht. Zur Volkszählung wollten wir taumeln, wir drei Geschwister. Doch der Stall war leer. Auch Klara fehlte. "Sind die Irren mitsamt Klara zum Nachbarn Kerkhoff aufgebrochen?" fragte Bruder Claus. "Oder sind die in die Mitternachtsmesse gezogen, um Klara zu opfern?" fragte ich. "Oder zum Kuhdamm?" kicherte unsere Schwester Katharina. "Finnste eigentlich auch," fragte mich mein Bruder Claus, "daß Mädels manchmal so penetrant albern sein können?" "Die drehen eine Runde mit der Kuh", sagte ich nur. "Folgen wir den Spuren." Die Spuren im Schnee führten um den Stall herum zu Vaters Werkstatt, bogen dann ab zum Wohnhaus, schlängelten sich zwischen Garage und Haus Richtung Grünkohlfeld. Und da standen wir vor dem Tempel. Hell leuchtete Mutters Gewächshaus in die Nacht, die beschlagenen Glasflächen zeigten ein diffuses Schattenspiel im Innern der Lichtkathedrale, also nicht in solch einem Baumarktbützchen, sondern in einem ausgewachsenen Pflanzenzuchthaus aus der Konkursmasse der Friedhofsgärtnerei Knebel und Moll. "Wohl dem, der Familie hat," kicherte Katharina. "Schau'n wir mal in aller Vorsicht", sagte ich, denn die Tür war geschlossen. "Wer soll zuerst kucken?" "Claus", sagte Katharina, "der hat so ein sicheres Auftreten." "Schon immer habt ihr mich vorgeschickt, wenn's brenzlig wurde", sagte der. "Durch diese Übungen hast du ja ein so sicheres Auftreten", kicherte Katharina, "also guck denn mal."

Vorsichtig öffnete unser Bruder die beschlagene Glastür und spähte ins Licht. "Komm, was ist da nun?" flüsterte Katharina nach einer Weile. Dann drehte Claus sich zu uns um, schaute in den Himmel und kratzte sich am Kopf. Im Widerschein des Lichts sahen wir seine beschlagene Stirn. "Sag schon" sagten Katharina und ich leise. "Nu sag schon!" "Baghwan, Voodoo, beuyhsartig", murmelte er. "Was bösartig", rief Katharina gedämpft. "Da müssen wir unmittelbar einschreiten", sagte ich und wollte zur Tür. Er hielt mich am Ärmel. "Nicht bösartig", sagte er, "eher josephbeuysartig!" "Ich dachte an Charles Manson ", atmete Katharina auf, "das wär' jedenfalls 'ne schöne Bescherung!" Ich drängte zur Gewächshaustür, Katharina ebenfalls.

Wo beginnt man, wo hört man auf? Ein interessantes Phänomen. Klara stand im Mittelschiff des Gewächshauses und zeigte ihren ausladenden Hintern. Der Schwanz zippelte träge ein wenig hin und her wie ein Pendel um den prallen Euter herum. Vorne graste sie in etwas. Scheinbar Mutters Sukkulentenzucht, unter denen sich aus Arterhaltungsgründen einige illegale befanden. Svenny thronte mit seinem Laptop auf ihrem Rücken, tippte mit der Rechten etwas ein und stopfte mit der Linken Aldi-Chips. Klara hatte Heinzis Hut zwischen den Hörnern, den mit der effektiven Lummenfeder. Hoch ragte sie empor in den freien Luftraum des Gewächshauses. An beiden Hörnern hatte Heinzi seine Hosenträger festgeklippt, kniete mit geschlossenen Augen und den Hosenträgerenden in Händen vor der wiederkäuenden Kuh. Mutter saß auf ihrem Melkschemel und paternosterte an Klara Zetkins Zitzen in den Zinkeimer, in dem sie die Düngemilch für die Grünkohlplantage zu sammeln pflegte. Vor dieser diffizilen Skulptur aus Mensch, Tier, kommunizierenden Röhren, unsichtbaren Kraftfeldern, wuchernder Flora und diffusem Licht und Schatten, stand Gabi hoch aufgerichtet und mit bloßen Füßen im gefluteten Terrazzowaschbecken am Kopfende des Gewächshauses, die Bluse bis zum letzten Knopf aufgeknöpft und die Hände gegen die kondensierten Scheiben in den Himmel gerichtet. "Ja", sprach sie, "ja, aus dem Wasser steigen wir auf in das, was sich Leben nennt, aus dem Wasser. Der Ursprung ist das Wasser, Gott ist der Ursprung, also ist Gott Wasser. H2O. H und O und H. Dreifaltig. Kannst Du mir folgen, Svenny?" "Alles roger soweit, Tante Gabi!" Und die fuhr fort: "Das O ist der Quell, der Born, das Loch, in dem das Leben wurzelt und aus dem es sprudelt. Gottvater. Ogottogott. Und lassen wir ihn Vater sein. Und lassen wir die Debatte um Muttern hier. Gottvater ist eine Null, ein O. Hauchte er nicht Adam und Eva seinen O-dem ein, seine Fahne aus Sauerstoff? Zur Linken der Urkette der Genesis der Heilige Geist, das erste H zum Wasser. Und heute ist das zweite H geboren, der Heiland. Will das O zum Wasser werden, zum Ursprung, muß es aufsteigen, das Heiland-H, leicht wie Wasserstoff, zum Zweigestirn aus Heiligem Geist und O. Verbinden sich zum dreifaltigen Lebenswasser, H2O. Gell, Svenny!?" "Logisch soweit!" rief der. "Is' ja ganz so ähnlich wie das binäre System vom Compi, Tante Gabi, bloß eben trinär." Und Klara schien mit der Zunge den Peyote zu walken. Mutter zapfte, und Heinz lauschte gegen die Wasserstalaktiten des Gewächshauses. Dabei zog er die Hosenträger stramm und klickte hektisch an den polaren Clips seiner Strapse. "Vom navigatorischen Standpunkt her betrachtet wären wir soweit", brummte er. Svennys Chips knackten in die momentane Stille. "Haha, oh", sagte Gabi nun und zog die Bluse vollends aus dem Rock, "beginnen wir die weite Reise, beamen wir in die Unendlichkeit des Kosmos, steigen wir auf ins All. Bringen wir Gott, was Gottes ist." Langsam nahm sie die Blusenzipfel in die Hände, hob sie wie zwei Flügel und begann damit zu schwingen, zuerst sanft wiegend, dann schaufelte sie gleichsam die Luft, nahm immer mehr Fahrt auf. Klara richtete den Schwanz steil nach oben und auf ihren Hörnern schienen sich Schweißperlen zu bilden. Und Svennys Augen verloren sich im binären System der Gabi-Brüste.

"Es knackt am Boden", rief Claus. "Nimm den Kopf aus der Tür", rief Katharina, "Muttis Gewächshaus hebt ab!" Und tatsächlich, zuerst ruckelte es im Metallgestell, es vibrierten die Glasplatten, der Kitt in den kalten Fugen knispelte. Mit einem dumpfen Knall löste sich der Glaspalast aus der Verankerung, sanft stieg das Lichterhaus dann einen halben Meter in den dunklen Himmel, verharrte dort einige lange Sekunden, so, als überlege es noch einen Moment. Dann schob es zunächst fast senkrecht, dann in einem weiten Bogern nach Süden in die Nacht, immer schneller werdend. Schließlich senkten wir die Augen und schauten uns gegenseitig an. Mama saß inmitten von Grundmauern auf ihrem Melkschemel, den vollgezapften Zinkeimer vor sich, die Hände geformt, als habe sie Klaras Euter noch in Händen.

Katharina zitterte. "Mir ist so affenkalt. Müssen wir die Trauernummer jetzt noch geben?" "Liegt dran, ob Vater die diesjährige Abschlußszene beherrscht. Er wird langsam alt", sagte ich. "Keine Panik, Leute, im Giebelfenster ist just das Licht angegangen", rief Claus.

Hoch oben am Haus wurden wie alljährlich die beiden Flügel des Fensters geöffnet. Im Gegenlicht erschien unser Vater, das heißt, zuerst die Aquavitflasche, dann unser Vater. "All' Ihr Suchenden da unten, all' ihr im Irrlicht tastenden, all' ihr leckenden Sünder und all' ihr lenzenden Heiligen", sprach er gegen Grünkohlacker und ein rechteckiges Loch im Schnee, "hallo, Ihr Erdlinge. Soeben hat Oma angerufen. Die Drei sind gut angekommen. Klara auch. Und so verkündet sie aus der Sphäre der wirklichen Realität der realistischen Wirklichkeit folgendes: Das All ist eine fast ländliche Gegend. Heinz hält Hof auf einem güldenen Obelisken inmitten einer Grünkohlplantage, die weiter reicht als all' die Horizonte unserer irdenen Phantasie, die Angel fest in Händen, die Lachsersatzbrötchen wie Patronengurte um die Hüften geschnallt, es sirren die Hosenträger wie Wobbler auf der Suche nach Wahrheit, Gabi, die tüchtige, hat sogleich mit der Leitung unserer galaktischen Wellness-Sektion begonnen, steht unserer isotonischen Wassertretstelle vor, hält Kurse in Schi Gong und Äolik, was ihr nicht kennen werdet, denn sie hat es just erfunden. Dabei handelt es sich um die Kunst des virtuellen Mauersegelns bzw. um vakuumgestütztes Windsurfen. Klara durchstreift Milkyways mit einem gar rundlichen Knaben auf den Schultern, der wieder und wieder in anmutiger Freude ausruft: Wo es lapt, da lass dich toppen! Total die Myrrhe hier, echt! Ende. Und so lasse ich den Verbliebenen die Wahl: Entweder wir werfen uns in Garderobe zum Besuche der Heiligen Eucharistie der höchstfeierlichen Mitternachtsmette oder wir beenden an diesem Punkte der Szenenfolge das alljährliche Krippenspiel. Eine entsprechende Beschlußvorlage unterbreite ich im häuslichen Salon. Qui t'acet, consen'tire vid' etur. Urbi et orbi."

Und er zeichnete mit der Aquavit-Flasche ein Kreuz in die klirrende Nachtkälte, eher ein Kreuz aus zwei Diagonalen, eher ein windschiefes X...